Knapp 26 000 Fußballvereine gibt es in Deutschland. Darin spielen gut 60 000 Mannschaften, die hinsichtlich Alter und Geschlecht Gegner des FC Bayern sein könnten. Und wann immer es einer dieser Mannschaften gelingt, die Bayern zu schlagen, ärgern sich etwa 40 % aller deutschen Fußballfans, während der Rest in Schadenfreude schwelgt. So ist das eben, wenn man an der Spitze steht: Man ist ganz allein, die Luft ist dünn, alle bewerfen einen mit Dreck, und jeder hofft, dass man endlich stolpert. So lassen Spott und Hohn nie lange auf sich warten, sobald der Bayern-Kapitän ein Eigentor verschuldet, obwohl der Gegner selbst keinen einzigen Torschuss abgibt, Bayern zu zehnt gegen die disziplinierte Konterstrategie einer gehobenen Mittelklassemannschaft verliert oder im eigenen Stadion die Meisterschaft verspielt. Die Niederlage gegen Hannover, die ja sicher nicht danach riecht, als gerate die rote Dominanz der letzten Wochen nun ernsthaft in Gefahr, hat in den Kneipen, Wohnzimmern und Medien des Landes für viel Fröhlichkeit gesorgt.
Aber wie angemessen ist es eigentlich, jede Bayern-Niederlage zu feiern wie einen Sieg des eigenen Vereins? Jeder, der regelmäßig auf die Bayern schimpft und sich freut, wenn sie mal einen schlechten Tag erwischen, hat doch schon mal heimlich mit ihnen gejubelt und viel Spaß daran gehabt, sie mit Dominanz, Souveränität und Spielkultur siegen zu sehen. Behaupte ich. Und ich bin ganz bestimmt kein Freund von ihnen – mein Schicksal ist nämlich, Bremen-Fan zu sein, und das war immer schon so und nahm nie Rücksicht auf Blutdruck oder Herzfrequenz. Fußballerisch sozialisiert wurde ich ab Mitte der 90er Jahre im Bremer Umland. Dies bedeutete: Man konnte sich keinen anderen Bundeskanzler vorstellen als Kohl und keinen anderen Werder-Trainer als Otto. Der Hass auf die „Lederhosen“ bzw. „Bayernsäue“ gehörte dazu und wurde vom Auftreten des Vereins in dieser Zeit nicht wenig gefördert: Verglichen mit heute unansehnliche Siege, bizarre Interviews von Matthäus, Effenberg & Co. Und nicht zuletzt Trappatonis berühmte Rede machten einen unangenehmen Eindruck auf mich: Dieser Verein ist nicht nur viel zu erfolgreich, sondern auch grundunsympathisch, dachte ich. Dumpfe, verhaltensauffällige Machos in geschmackloser Eiche-Rustikal-Umgebung trinken Weizenbier und pöbeln sich an, übersättigt wie gelangweilt von Reichtum und Erfolg. Keine Konstellation, zu der man sich hingezogen fühlte. Ein besonderes Bayern-Trauma bescherte dieser monströse Verein, der es auf beängstigende Weise schaffte, Bonzentum und Spießigkeit in sich zu vereinen, gerade „uns“ Bremern: Basler, Herzog, REHAGEL, Pizarro, Frings, Ismael: Sie alle pfiffen irgendwann auf das viel zitierte „familiäre Umfeld“, die ruhige Medienlandschaft, die im Verhältnis zur wirtschaftlichen Grundlage ansehnlichen Erfolgschancen, sie alle vergaßen eines Tages, welche Freude sie den Bremen-Fans geschenkt hatten, indem sie auch die Bayern immer wieder geärgert, sie aus dem weißblauen Bonzenhimmel auf den eichenholzfreien Boden zurückholten. Bis dann eines Tages eben doch Uli Hoeneß anrief. Bayern-Fan sein, das war für mich etwa so wie Bush wählen.
All das ist lange her. Eine Zeitlang konnte sich Schalke den ersten Platz auf der Liste meiner meistgehassten Vereine sichern – Reck, Rost, Ernst, Ailton und Krstajić sind hier die Stichworte: Sie alle erlagen irgendwann dem Zauber Gelsenkirchens und der sympathischen, seriösen Ausstrahlung ihres damaligen Managers. Zudem lebe ich seit einigen Jahren im Rheinland-Exil, und das verändert vieles, unter anderem das Verhältnis zu den Dingen, die man mit der „Heimat“ verbindet. Im Falle von Werder heißt das: Die Liebe ist größer und inniger geworden, und immer, wenn ich Thomas Schaaf reden höre, bekomme ich Sehnsucht nach Feuchtwiesen im Bodennebel, kühlem Haake Beck und dem dunklen, o-betonten Bremer Dialekt. Meine Bayern-Abneigung aber ist in dieser Zeit… deutlich abgeflaut. Schon länger gab es an diesem Verein Dinge, die mir irritierender Weise gefielen: der hintergründige Ballkünstler Scholl, der unglaubliche Kahn von 2002, der staatsmännische Hitzfeld und etwa ab dem 17. Lebensjahr sogar auch… das Weizenbier. Und wie ich nun erfahren musste, gibt es ja sogar Menschen, die diesen Verein mögen – Personen MIT Persönlichkeit, die genauso schuldlos an ihrer Zuneigung zu Bayern sind wie ich an meiner zu Bremen. Und spätestens seit der eindrucksvollen Saison 2007/08 – wir erinnern uns: Ribery, Toni, Klose, noch einmal Hitzfeld, Double, 21 Gegentore in einer ganzen Saison – haben sich da bei mir noch andere Empfindungen eingestellt. Nennen wir sie „Respekt“ und „ästhetisches Vergnügen“. Spätestens seit sieben, acht Jahren reicht es für nationale oder gar internationale Dominanz schließlich nicht mehr, anderen Vereinen die Führungsspieler und Publikumslieblinge wegzukaufen, wenn sie auf der Höhe ihres Schaffens sind – um ihnen dann vielleicht sogar die Bank zuzuweisen, die dann eher als „Safe“ dient, insofern sie die versteckten Juwelen davon abhält, für andere Vereine zu glänzen. Notgedrungen hat sich der FC Bayern deshalb in den letzten Jahren den Ruf erarbeitet, sich seine Siege sogar mit Sinn, Verstand und einer echten Spielidee zu erarbeiten. Van Gaal brachte noch eine Entwicklung auf den Weg: Ähnlich dem (über-)großen Vorbild Barca setzt man in München verstärkt auf die eigene Jugend und bringt so regelmäßig Spieler hervor, denen Fußballdeutschland richtig gern bei der Arbeit zusieht. Teure Einkäufe kann man sich in München nach wie vor leisten, aber sie finden nur noch da statt, wo sie das Mannschaftsgefüge gezielt und folgerichtig verstärken. Dies machte die Münchner dem Nicht-Bayern-Fan in dreierlei Hinsicht sympathischer: Die bestens ausgebildeten, original bayrischen Bayernspieler erfreuen in der Nationalmannschaft wie selbstverständlich auch den Werder- oder Sechzgerfan, sie halten Hoeneß und Rummenigge tendenziell von Raubzügen durch die Liga ab – und indem der plötzliche Systemwechsel die Abwehr gehörig durcheinander brachte, war es für eine ganze Zeit wieder leichter, gegen die Bayern Tore zu erzielen. Das gab dem Verein ein menschlicheres Antlitz. Obwohl in dieser Saison erst drei Gegentore in zehn Spielen zu Buche stehen, scheint dies seit letztem Sonntag wieder etwas aktueller. Ob zu Recht, wird sich zeigen.
Früher nahm ich den FC Bayern als einen Verein wahr, der in Deutschland fast alles oder zumindest viel zu viel gewann, der jeden hochklassigen Spieler irgendwann aufsaugte wie ein schwarzes Loch, der dem neutralen Fan meistens unansehnlich errumpelte Favoritensiege und jenseits des Platzes so ungefragt wie permanent schlechtes Bauerntheater mit unbegabten Laiendarstellern bot. Heute spielt der gleiche Verein nicht nur erfolgreich, sondern auch durchdacht, kultiviert und manchmal richtig schön. Der prollige Obermacker ist dem vielleicht etwas langweiligen, aber weniger nervtötenden, sachlichen Vollprofi gewichen. Und nicht zuletzt geben die Bayern den deutschen Fans wieder das Gefühl, mit den ganz Großen in Europa mithalten zu können – bei EL und CL ist man eben oft mehr Fan für die Fünfjahreswertung als der eines bestimmten Vereins. Denn ob sie sich nun als Meister oder Dritter für die CL qualifizieren: Nur bei den Bayern sind Siege gegen Inter, Manchester oder Madrid eben keine Sensation, über die man noch in Jahrzehnten reden wird, sondern „nur“ ein großer Erfolg, der aber auch nicht mehr ist als das Eintreten der erfreulicheren von zwei realistischen Möglichkeiten. Soll der FC Bayern also doch ruhig wieder Meister werden und die Champions League gewinnen. Auch Gallier und Germanen erfreuten sich schließlich an der Größe und Schönheit Roms.Möge er uns Nicht-Fans mit guten Spielen unterhalten, sich ordentlich um seine vielen Nationalspieler kümmern, uns immer mal wieder die diebische Freude einer Niederlage gönnen und mit selbstverschuldeter Schwäche sogar mal einem anderen Verein die Meisterschaft ermöglichen. So lässt sich dieser Tage eigentlich gut damit leben, dass dieser Verein unangefochten die Liga beherrscht.
Matthias Holtz
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