Hallo, WM-Wettfreunde. Ja, jeder macht derzeit bei einem Tippspiel mit. Das erhöht die Spannung, man setzt sich mit den Begegnungen „proaktiv“ auseinander, und sogar fußballunverdächtige Zeitgenossen beiderlei Geschlechts veredeln ihre WM-Euphorie noch zusätzlich mit einem gehörigen Schuss Wettfieber. Aber was ist der Kern des Ganzen: Geht es vor allem um die Kohle – oder um das Rechthaben vor sich selbst – und vor seiner eigenen Mannschaft?

Ich habe es jetzt gerade aufgegeben. Liege zu weit zurück. Habe falsch getippt. Falsch getippt im wortwörtlichen Sinne, aber auch falsch getippt im empathischen Sinne. Ich setzte auf Teams, auf die ich eigentlich nicht setzen wollte. Nur des Sieges willen. Nur um Punkte einzufahren. Und ich verlor. Und verlor. Ich, anfangs der unumstrittene Star meines Teams in unserer Wettrunde, fiel zurück. Immer weiter zurück. Ins graue, graue Mittelfeld, grauer als der Himmel über Rio, noch grauer als derjenige über Köln oder der unterm Unterberg.

Ich habe Glück in der Liebe. Glaube ich zumindest. Also, jetzt schon so seit 20 Jahren. Dieser Gedanke rettet mich, hält mich aufrecht. Daran mache ich auch fest, dass ich seitdem in allen „proaktiv gespielten“ Glücksspielbereichen, von Lotto, Poker, 17&4, Tipprunden, Toto, sonstigen Wetten Millionen verloren habe. Millionen. Verloren hätte, gottseidank. Denn ich spiele nicht. Um große Summen. Bis auf das bisschen Poker fünf Mal im Jahr mit Freunden, das ist aber zu wenig, um in Form zu kommen, darum verliere ich da regelmäßig, das ist aber dann schön, denn das bestätigt mich ja.

Einzige weitere Wett-Tipp-Glücks-Ausnahme: Fußballtipprunden zur EM und WM.

Mal abgesehen von der Liebe und anderen schönen Erfahrungen des Lebens, denke ich, dass ein Zusammenhang besteht aus Wunschdenken, Tippen, ein richtiges Ergebnis „riechen“ können – und sich auf seine Sinne verlassen können. Liebe nicht nur als Projektion fühlen, als fehlinterpretierte Testosteronfalle, als Nutzbeziehung, wie auch immer. Liebe in jungen Jahren ist Irrtümern unterworfen, darum ist zwischen 15 und 35 der praktische Übungsaspekt auch in diesem Bereich nicht ganz unwesentlich. In der Liebe ab 30, 35 sollte das Ich so halbwegs wissen, auf welchen Topf sein Deckelchen passt, vor allem, wenn dann Kinder ins, sic, Spiel kommen, aber ich schweife, wie so oft, ab.

Beim Tippen, Wetten, insbesondere beim Tippen von Sportergebnissen, ist das anders. Man wägt ab, ist natürlich auch parteiisch, bezieht diesen Faktor jedoch mit ein, hört – mehr oder weniger – auf seinen Bauch – und, man weiß es, man darf nie „umtippen“. Also das bereits festgelegte Wunschergebnis nochmals vor der Änderungsdeadline noch ein zweites, drittes, xtes Mal verändern. Das geht in die Hose – wie bei mir während dieses Turniers im Falle des einzigen umgetippten matches, nämlich Schweiz vs. Ecuador. Ich hatte das richtige Ergebnis. Ich schwor mir vor diesem Wettbewerb, aufgrund gemachter Erfahrungen niemals umzutippen. Ich schwor meinen Sohn darauf ein. Ich unternahm alles, um es nicht zu tun.

Ich tippte um. Und ich verlor. Tipico.

Des Weiteren machte ich den Fehler, bei für mich emotional mehr oder weniger vorbelasteten Matches nicht mein Wunschergebnis zu tippen. Sondern eben abzuwägen. Was mir den Spaß am Tippen noch mehr verdarb. Denn entweder hatte ich richtig getippt, richtige Differenz oder sogar richtiges Ergebnis, schön, dann waren es eben drei Punkte. Oder so.

Schlimmer war: Es kam alles anders. Meine Lieblingsmannschaft gewann, aber der Tipp war falsch. Emotional nicht so günstig. Ich wurde unlustiger.

Und schon, einmal eingesperrt in die timeline, halbe Stunden zuvor, während des jeweiligen Spieles, machte ich eine weitere unschöne Erfahrung: Ich konnte das Spiel nicht mehr so genießen, wenn es tippmäßig in die falsche Richtung lief. Obwohl das Spiel, oft, toll war. Obwohl die „richtige“ Mannschaft führte. Immer noch führte. Bis kurz vor Schluss führte.

Aber dann führte sie plötzlich zu hoch, oder zu niedrig, der der Ausgleich fiel, oder: Das Spiel wurde vom Gegner gedreht (Hass!) oder die falschen Spieler schossen die Tore, oder eben nicht.

Um was geht es euch beim Tippen? Um die Spannung? Um den Wettspaß? Um Fußball?

Ja, ganz sicher um Fußball. Ganz sicher nicht, sage ich. Im Büro warf man ein, dass sich durch den Tippprozess plötzlich Menschen für Fußball interessierten, die das sonst nicht täten.

Mann. Wir haben schon genügend Menschen auf dieser Erde, für die rund um das runde Leder erst mal lange gar nichts mehr zählt. Leider. Und auch wenn dies eine temporäre Leidenschaft ist. Niemand sollte die essentiellen Dinge aus den Augen verlieren. Niemand sollte sich dem doch eher negativen Impact des Wettens-auf-Teufel-komm-raus auf sein Ego gedanklich verschließen.

Wetten heißt bestenfalls Arithmetik, die Grundrechenarten, bisschen Prozentrechnen, bisschen Dreisatz, bisschen Chuzpe. Poker.

Aber ein Fußballergebnis richtig zu tippen, hat nichts mit Verstand, Wissen, Gefühl, Bauchgedöns, dem gemeinschaftlichen Sozio-Erlebnis schnuckeliger Tipprunden oder sonst welchen messbaren Eigenschaften zu tun.

Tippen macht einfach nur Spaß. Man will sich zuerst messen. Will wissen: Werde ich erster sein, mittlerer, letzter, ja, wie schneide ich letztendlich ab, wie stark sind die Gegner, oder wie clever, oder, besser: wie glücklich. Wie spielsüchtig?

Ich fühle mich jetzt hier als spaßverbremster Außenseiter, aber egal, wie ich mich fühle, ich kann nach gefühlten fast komplettem eineinhalb Spieltagen dieser WM sagen: Ich bin raus aus dem Tippspiel. Innerlich.

Ich werde weitertippen. Werde versuchen, meinem Team so viele Punkte wie möglich zu vermachen. Team ist King. Wer gerne tippt, soll das tun. Es war meine Idee, meine Initiative, es ist mein Team, es trägt meinen Namen. Okay.

Aber ich will nun nur noch genießen. Ich finde, diese WM bietet, neben vielen unerfreulichen, eigentlich tatsächlich sehr zentralen, „Randerscheinungen“, viele sehr gute Spiele auf einem ansehnlichen Niveau, oft spannend bis zum bitteren Ende. Für ein Team. Für einen Tipper.

Nur noch genießen, das ist natürlich eine Fensterbankhaltung, gegen die man nun auch einiges einwenden kann. Zu recht. Wer genießt diese WM schon? Die „Einheimischen“? Blatter? Gerrard? Xavi? Olic? Der Getränkedealer? In´Bev? Mats Hummels? Die deutsche Mannschaft? Na, die vielleicht nur bis Samstagabend. Ghana, huah, das wird ein unheimliches Spiel. Knapp, knapp, knapp. Ihr werdet es sehen. Hoffentlich verletzt sich niemand, nee du, nicht noch einer. Oder, Voodoo kommt, ist im Spiel. Der depperte Ronaldo, der ältere, hat ja schon Klose verhexen lassen. Klose läuft ergo lieber erst gar nicht auf. Er fühlt sich nicht so, derzeit. Oder Jogy fühlt sich nicht so. MK ist nicht so bereit für die Startelf. Wie Schweini, ist er auch verhext? Özil? Der sowieso. Von Mourinho, glaube ich. Die Portugiesen, alte erfahrene Kolonialschweine, können sowas wie Voodoo ziemlich gut. Mous Augenaustechereien beim gegnerischen Trainer, der jetzt tot ist, seit Winter. Oh, Mou. Wie sonst wäre Mous Chelsea auch wieder so weit gekommen in allen europäischen Wettbewerben…

Oder, stell dir vor, es passiert was bleedes im Training. Oder während des Spiels, aber neben dem Spielfeld, ein blöder, böser Ausrutscher, wie bei den Engländern neulich, dieser übel gestürzte Physio. Vorzeitiges WM-aus, und das schon vor dem gestrigen WM-Aus seines Teams. Stell Dir vor, Müller-Wohlfarth rutscht beim Jubeln über das glückliche 1-1 in der 89. Minute auf einer der 1001 in der für Ghana eher vorteilhaften (findet Jogi, der warnt schon wieder, der ewige Mahner, aber hat ja recht) schwülen Hitze von Fortaleza geleerten Wasserpullen unglücklich aus und…

Oder Jogi. Er dehydriert plötzlich in einem seiner zu engen Hemden. Oder…

Hey, alle Wetter, was da noch alles geschehen kann. Könnte. Kann! Das könnt ihr alles doch gar nicht einbeziehen. Also lasst es doch einfach, das Wetten. Hat doch keinen Sinn. Zu viele Unbekannte. Das klassische Glückspiel, qua definitionem.

Keiner, aber wirklich niemand, kann voraussehen, wie die derzeit so erfrischend aufpolierte Gemütslage der Nation sich am Sonntag, oder Montagmorgen im Büro, präsentieren wird. Besser auf Deutschland tippen? Und wenn wir Pech haben, hast du doppelt Pech gehabt. Spiel falsch, Ergebnis falsch. Alles Scheisse, wie der Deutsche in so einem Falle dann so sagt.

Mein WM-Fieber hat sich, England und Spanien ade, nun so auf ein mittleres Niveau eingependelt. 38,5 oder so. Celsius. Wie ich vor wenigen Tagen richtig orakelte – Vorsicht, orakeln, das ist kein Wetten. Das ist, Krake hat immer recht, Wissen, höheres Wissen! – dezimiert eine kluge, böse Hintergrundregie, ausgestattet mit einem fiesen, komplexen, vielblatterigen Drehbuch, dezimiert also diese unheimliche FIFA-Regie aus politischen, verbandsinternen Gründen gezielt die europäischen Teilnehmer.

Portugal? Versetzungsgefährdet. Griechenland? Vergiss es. Spanien. Tja. England? Eher unwahrscheinlich? Kroatien? Mexiko, scheint es, wird spielerisch zu stark sein. Und ist physisch ähnlich stark einzuschätzen wie Chile. Wie Kolumbien.

Die Schweiz? Wird man sehen. Italien? Noch nicht ganz durch. Bosnien?

Könnte es schaffen. Ist Gruppenletzter, hat Argentinien jedoch als Gegner schon hinter sich. Mehr als das Achtelfinale sehe ich da aber nicht. Aber, immerhin.

Russland? Vergiss es. Belgien? Hat mich noch nicht überzeugt. Belgien Weltmeister?

Da wette ich Haus und Hof dagegen. Frau, Kinder, alles, was ich habe.

Nur um es deutlich zu sagen: Dies ist ein Blogtext. Das mit Haus, Hof, Frau, Kinder, das war ein dummer, einfacher, im Subtext dieses Textes und auch sonst irgendwie grade eben mal so auf der Hand liegender dummer, dummer Gag.

PS: Wir von „Hauptsache Fussball“ haben eine recht sehenswerte sechsminütige Kurzreportage über „Groundhopping“ gemacht. Fürs Fernsehen. Die ARD. Der Film unseres Autoren und Hauptsache Fussball-Teammembers Matthias Holtz (ein Werder-Fan, auch er in unserer Tipprunde inzwischen weit vor mir) läuft am Sonntagnachmittag ab 16:30 Uhr in der ARD-Sendung „Ratgeber Auto-Reise-Verkehr“. „Groundhopping“ wird in diesem Falle nicht als selbstorganisiertes Ding von Ultras gezeigt (da gab´s ja schon Filme), sondern als neues Kurzreiseangebot eines sympathisch fußballbesessenen Fans, der das GH-Ding kurzerhand nicht zu einem Geschäft, sondern eher – erst mal, müssen wir weiter beobachten natürlich, er fängt ja grade erst an – zu einem schlecht bezahlten Lebensinhalt gemacht hat. Mark Mauderer, so heißt der Veranstalter, verdient eigentlich kaum etwas an seinen Touren (wir haben es nachgerechnet). Mauderer kommt also nicht unbedingt in erster Linie von Vermarktung, was schon mal nicht ganz unsympathisch ist.

Stationen unseres Wochenendtrips waren im Mai Spiele von Viktoria Köln (vs. Fortuna, vierte Liga), des PSV Eindhoven (Eredivisie, letzter Spieltag, wir waren weiter in Mönchengladbach (sahen die U 19, gegen den BVB) und ein Match in Mülheim an der Ruhr (VfB Speldorf, Oberliga Niederrhein , fünfthöchste Klasse). Die Reise hat viel Spaß gemacht, aber seht es euch doch selbst an.

Ja. Fußball ist nicht unser Leben, aber unser Leben wäre ganz sicher um a bisserl was ärmer ohne Fußball.

Aber es wäre sicherlich nicht ärmer ohne Wettbüros. Ohne charakterlose, über die Spielsucht schnellstmöglich verarmte Väter, oder Söhne, oder keine Ahnung was das für Typen sind, die ihre Familien, Freunde, Verwandten und Bekannten und vor allem sich selbst darüber mal eben so ins Unglück stürzen. Wider besseres Wissen, versteht sich. Wider eigenes Bauchgefühl, versteht sich.

All den harmlosen Wettbesessenen in all den kreativen Medienbüros sei gesagt, dass ich sehr gut verstehen kann, dass das Wetten z.B. auf Sieg, Remis oder Niederlage für einige eben auch eine sehr aktiv wahrgenommene, zusätzliche Form des Wettkampfes bedeuten kann. Das respektiere ich. Ich habe da nur irgendwie keinen Spaß mehr dran. Wetten hat einfach zu viel, nein, nicht mit Glück oder Glücksspiel zu tun, sondern es hat meiner bescheidenen Meinung nach einfach zu viel mit absolut unbestimmbaren Unwägbarkeiten zu tun.

Ist das Leben ebenso unbestimmbar? Unwägbar? Was bedeutete es, wenn dem so wäre? Für jeden etwas anderes?

Also, passt auf euch auf. Fiebert mit, aber wettet nicht um jeden Preis. Guckt auch nicht, siehe vorhergehender Text, jedes Spiel. Hängt nicht 24 Stunden vor dem Bildschirm.

 

PS, was mein Orakel sagt, ich will es euch auch heute nicht vorenthalten:

Italien – Costa Rica 1-1

Schweiz – Frankreich 1-1

Honduras – Ecuador 1-1, äh, nein: 1-2.

Argentinien – Iran 3-0.

Deutschland – Ghana 1-1 (alle anderen sagen: 3-0).

Nigeria- Bosnien 1-2.

Belgien – Russland 1-1.

Südkorea – Algerien 1-2.

USA – Portugal 1-1. Oder 1-1. Oder 2-1. Oder 1-2. Wahrscheinlich 0-0. Nee, 2-2.

 

Na ja: Ich tippe vielen wohl zu eurounzentristisch. Zu antiwettistisch. Zu antizyklistisch. Aber egal.

 

Euch allen weiter viel Spaß bei der WM. Ihr werdet ihn haben. Da bin ich mir ganz sicher.

 

Andreas Bach