Ein Gastbeitrag von Markus Foos

Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich erschrocken bin. Erschrocken von der Art und Weise, wie in den letzten Wochen Teile meiner Freunde, Bekannte und Studenten in die undifferenzierte Hetze gegen einen Bundesliga-Spieler eingestiegen sind. Erschrocken, weil ich diese Menschen bisher eher in Vorbildfunktionen kennengelernt habe. Als erfolgreiche Unternehmer, als herangehende Sportjournalisten, als intelligente Mitglieder einer rational denkenden Gesellschaft. Und weil ich sie deswegen alle für Menschen halte, die qua Bildung, Denkvermögen und Position zu einer differenzierten Auseinandersetzung befähigt sein sollten. Die dies aber scheinbar gerne vergessen, wenn es um Fußball geht. Um Ehre. Und – teilweise – um „ihren HSV“. Dieser Beitrag soll all diese Menschen zum Nachdenken anregen. Und auch all jene, die sonst in den letzten Wochen in den Chor derjenigen eingestimmt haben, die dem 20-jährigen Hakan Calhanoglu ein „schnelles Karriereende durch eine schwere Verletzung“, das „Verrotten auf der Tribüne“ oder „eine sonstige Abreibung“ gewünscht haben.

Was war geschehen? Der HSV verpflichtet vor zwei Jahren das von vielen Vereinen umworbene Talent Hakan Calhanoglu für 3 Millionen Euro. Nach einem Jahr Ausleihe absolviert der damals 19-jährige Calhanoglu dann Mitte 2013 sein erstes Pflichtspiel für den HSV. Im Frühjahr 2014 verlängert er seinen Vertrag beim HSV bis 2018. Sowohl er selbst als auch der Verein geben ein gemeinsames Statement ab, dass dies ein Bündnis für die Zukunft sei und der HSV eine Mannschaft um Calhanoglu herum aufbauen wolle. Kurz vor Saisonende – während der für den Verein immens wichtigen Relegationsspiele – wird jedoch ruchbar, dass der Spieler gerne zum sportlich wesentlich erfolgreicheren Bundesliga-Konkurrenten Bayer 04 Leverkusen wechseln möchte. Eine Ablösesumme von 14 Millionen EUR steht im Raum. Nach den Relegationsspielen und dem erfolgreichen Klassenerhalt des HSV bestätigt der Spieler die Gerüchte via Facebook und Twitter und wirbt bei den Fans via Twitter um Verständnis für seinen Traum, bei einem Club spielen zu wollen, der im nächsten Jahr in der Champions League vertreten sei. Gleichzeitig verkündet die HSV-Führung in Person von Sportdirektor Oliver Kreuzer und dem Vorstandsvorsitzenden Carl-Edgar Jarchow, dass man den Spieler unter keinen Umständen gehen lassen werde, da dieser sich an seinen Vertrag zu halten habe. Die Fans des HSV fühlen sich von Calhanoglu verraten. Schließlich hat dieser ja bei seiner Vertragsunterzeichnung öffentlich erklärt, das neue Herzstück der Mannschaft werden zu wollen. Ihrem Ärger machen sie deutlich Luft – auf der Facebook-Seite des 20-Jährigen und via Twitter. Dort finden sich innerhalb kürzester Zeit neben üblen Beschimpfungen auch Drohungen wie „Irgendwo zwischen Park- und Trainingsplatz werden wir Dich kriegen und dann erlebst Du dein blaues Wunder“. Der Spieler sperrt daraufhin seine Facebook-Seite für Kommentare und lässt sich auch auf Twitter nicht mehr blicken. Persönlich taucht Calhanoglu ebenfalls weitestgehend ab. Als der HSV Mitte Juni ins Mannschaftstraining einsteigt, kann sich der Spieler eigentlich nicht mehr verstecken. Und tut es doch. Wohl aus Angst vor der massiven Aggression der Fans auf den Social Media Kanälen lässt sich Calhanoglu von einer Psychologin krankschreiben. Daraufhin eskaliert die Situation weiter. Dem Spieler wird von Fans und Medien vorgeworfen mit dieser Krankschreibung seinen Arbeitgeber, den HSV, unter Druck setzen zu wollen und einen Transfer zu Leverkusen zu erzwingen. Die HSV-Fans steigen munter in diese Hetzjagd ein. Wo auch immer Artikel zum Thema Calhanoglu erscheinen, werden diese munter mit üblen Beschimpfungen garniert. Meist im Einklang mit dem Wunsch, dass seine Karriere möglichst bald durch eine böse Verletzung enden solle.

Dass es in jedem Konflikt eine zweite Seite gibt, konnte und wollte dabei anscheinend weder die Sportjournaille, noch die in ihrer Ehre gekränkten Fans, noch die breite Masse der neutralen Fußball-Fans betrachten. Hatte man hier doch das perfekte Beispiel des charakterlosen Fußball-Profis, der nur auf das schnelle Geld aus ist, gefunden. Der seinen alten Verein belügt und betrügt und seinen Wechsel zu mehr Geld mit aller Macht durchsetzen will. Das alles gibt ein prima Zielobjekt ab für den Gegenentwurf zum ewig vereinstreuen Spieler, der heute weitestgehend ausgestorben scheint. Ein Abziehbild für das Söldner-Image, das Fans gerne in wechselwilligen Fußball-Profis sehen. Das man dann in Artikeln und Kommentaren zum Freiwild erklärt, an dem sich jeder abarbeiten darf.  Egal, wie niederträchtig das sein mag. Und anscheinend auch ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass Hakan Calhanoglu ein gerade mal 20 Jahre junger Mensch ist. Der sich mit diesen Anfeindungen auseinander setzen muss. Der mit der Angst, einem dieser prügelwilligen Fans auf der Straße zu begegnen, abends ins Bett gehen und morgens aufstehen muss. Der damit wohl einen ähnlichen Druck aushalten muss, an dem Spieler wie Sebastian Deisler, Thomas Broich und nicht zuletzt Robert Enke zerbrochen sind – wenn auch jeder von ihnen in unterschiedlicher und vollkommen individueller Form. Dass sich an dieser Stelle dann mit Michel Mazingu-Dinzey ein ehemaliger Bundesliga-Profi einschaltet und sich nicht entblödet, Calhanoglu vorzuwerfen, mit einer psychischen Erkrankung zu spielen, ist schlimm. Dass sich mit SPOX auch noch ein Medium findet, das diesen geistigen Dünnpfiff verbreitet, ist mindestens verwerflich, unter Umständen sogar gefährlich. Denn es steht niemandem zu, über die psychische Verfassung eines anderen zu urteilen. Schon gar nicht öffentlich. Und schon drei Mal nicht, wenn es gute Gründe dafür gibt, eingeschüchtert zu sein. Dass seine Krankschreibung direkt nach dem erfolgten Wechsel aufgehoben wird, macht sie im Übrigen keinesfalls zur Farce. Im Gegenteil: es zeigt nur mehr, wie sehr der junge Kerl unter der potenziellen Bedrohung durch die HSV-Fans gelitten hat.

Zudem hat die ganze Geschichte möglicherweise eine Kehrseite. Und die könnte so aussehen: der Spieler Hakan Calhanoglu und der Sportdirektor Oliver Kreuzer kennen sich seit vielen Jahren. Noch aus der gemeinsamen Zeit beim Karlsruher SC. Damals handelte Kreuzer auf Seiten der Karlsruher den Wechsel von Calhanoglu zum Hamburger SV aus. Das geschah im August 2012. Bevor er dies tat, verlängerte er allerdings den Vertrag von Calhanoglu im März 2012. Ohne diese Vertragsverlängerung wäre Calhanoglu im Sommer 2012 ablösefrei zu haben gewesen – der klamme KSC hätte seinen besten Spieler ohne irgendeinen finanziellen Ausgleich verloren. Durch die Vertragsverlängerung konnte der KSC, der Calhanoglu seit 2009 ausgebildet hatte, zumindest noch eine kleine Ablösesumme mitnehmen. Der Verdacht liegt nahe, dass sich Kreuzer und Calhanoglu bei den Vertragsverhandlungen mündlich darauf geeinigt hatten, dass der junge Spieler seinen Vertrag beim KSC verlängert, um dem Verein einen finanziellen Vorteil bei einem Wechsel zu verschaffen. Der Verein in Person von Kreuzer wird ihm dafür wahrscheinlich zugestanden haben, einem späteren Wechsel zu einem Bundesligisten nicht im Weg zu stehen.

Liest man die Äußerungen von Calhanoglu in seinen letzten Interviews, so liegt der Verdacht nahe, dass eben dieses auch bei den aktuellen Verhandlungen geschehen ist. Vielleicht hat sich das Ganze wie folgt zugetragen: im Frühjahr 2014 steht der HSV am Rand des Abgrunds. Die Fans wenden sich gegen die sportliche Führung, auch Sportdirektor Oliver Kreuzer steht unter Druck. Kreuzer braucht positive Schlagzeilen. Er geht also auf den Shooting Star seiner Mannschaft zu und fragt diesen, ob er für eine Vertragsverlängerung offen sei. Calhanoglu und sein Berater stimmen zu, merken aber an, dass für die weitere Entwicklung des Spielers irgendwann ein Vereinswechsel anstehen muss und man daher eine Ausstiegsklausel vereinbaren möchte. Kreuzer fürchtet schlechte Presse, falls er eine solche Klausel vereinbart und bittet daher darum, sich nur mündlich zu verständigen. Sollte ein sportlich erfolgreicher Verein mehr als 12 Millionen EUR bieten, so würde man dem Spieler keine Steine in den Weg legen. Er selbst würde diese Vereinbarung dann auch öffentlich zugeben, so dass dem Spieler kein Image-Schaden entstehen würde. Calhanoglu willigt ein und lässt sich auch willfährig als neues Herz der Mannschaft durch die Presse ziehen. Weil sein alter Vertrauter Kreuzer diese positive Stimmung braucht und weil diese positive Stimmung auch der Mannschaft in der aktuell schwierigen Situation gut tut. Dass diese Vereinbarung nicht schriftlich festgehalten wird, kann man naiv und töricht nennen. Andererseits konnten sich Calhanoglu und sein Berater Bektan Demirtas ja schon in Karlsruhe auf das Wort von Oliver Kreuzer verlassen.

Im Mai 2014 wird das Interesse von Bayer Leverkusen dann tatsächlich öffentlich. Dass Oliver Kreuzer den Wechsel möglicherweise selbst forciert hat, um dem finanziell angeschlagenen HSV Geld in die Kassen zu spülen, ist dabei mehr als eine Randnotiz (nachzulesen in o.g. Interview). Als Kreuzer allerdings feststellt, dass die HSV-Fans diesen Transfer nicht gutheißen würden, legt er eine Kehrtwende hin. Und macht öffentlich Front gegen Calhanoglu, indem er erklärt, dass der Spieler einen Vertrag habe und keinesfalls wechseln werde. Calhanoglu versteht die Welt nicht mehr, gibt verschüchterte Interviews, in denen er einzig zwischen den Zeilen auf seine Vereinbarung mit Kreuzer hinweist (ebenfalls oben verlinktes Interview) und zieht sich unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit immer weiter zurück.

Die Medien-Öffentlichkeit und die in ihrer Ehre verletzten HSV-Fans ziehen ihre Hetzjagd gegen Calhanoglu durch und dieser hat keine Chance, sich auch nur irgendwie zu wehren. Denn jede differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema wird mit brutalsten Verbal-Fouls zum Erliegen gebracht, bevor sie entstehen kann. Man hat schließlich seinen Söldner gefunden. Und jetzt hat man das Recht, auf ihm rum zu trampeln.

Sicherlich kann man Calhanoglu dabei vorwerfen, dass er die HSV-Fans bitter enttäuscht. Jene HSV-Fans, die sich im Frühjahr über seine Vertragsverlängerung gefreut hatten und die davon ausgegangen waren, eine neue Identifikationsfigur gefunden zu haben. Diese aber müssen sich ernstlich fragen, wer sie getäuscht hat: der Spieler Calhanoglu oder der Sportdirektor Kreuzer. Sie sollten zudem einsehen, dass ein Spieler immer die größtmögliche sportliche Herausforderung sucht. Und die findet er bei einem Champions League Teilnehmer nun mal eher als bei einem Verein, dessen jüngere Vergangenheit eher durch eine beispiellose Verklärung der eigenen Bedeutung als durch tatsächlichen Erfolg beschrieben wird. Dass es schmerzt, dies zu realisieren, ist verständlich. Und darum ist auch eine gewisse Enttäuschung bei den HSV-Fans nachzuvollziehen. Nicht aber die blinde Wut, die sich in den letzten Wochen gegen Calhanoglu gerichtet hat.

Dazu noch ein paar einfache Zahlen: Hakan Calhanoglu hat den HSV bei seiner Verpflichtung 2,5 Millionen EUR gekostet. Nach einem Jahr wechselt er für 14,5 Millionen zu Bayer 04 Leverkusen. Der HSV hat somit aus dem Spieler einen Gewinn von 12 Millionen EUR erwirtschaftet. Ohne die 11 Tore, die der 20-Jährige in der Saison 2013/14 für den HSV erzielt hat, wäre der Verein sehr wahrscheinlich abgestiegen. Nochmal im Klartext: Calhanoglu rettet den Verein mit seinen 11 Toren, spült 12 Millionen EUR in die Kassen und erntet bei seinem Abschied statt einer differenzierten Auseinandersetzung über die Umstände seines Transfers eine beispiellose Hetzjagd mit übelsten Beleidigungen, Anfeindungen und Bedrohungen.

Artikel 1 unserer Verfassung erinnert uns daran, dass die Würde eines Menschen unantastbar ist. Dieser Artikel gilt auch für Fußball-Profis. Und er gilt auch für Fußball-Profis, die sich in den Augen ihrer Fans ehrverletzend verhalten. Zu welch unfassbar schrecklichen Taten gekränkte Ehrgefühle führen können, lässt sich nicht zuletzt am „Ehrenmord an Hatun Sürücü“ ablesen. Gerade darum sollten sich hier alle Seiten einmal kurz besinnen. Es geht um einen 20-jährigen jungen Mann. Der bestimmt nicht alles richtig, aber eben auch nicht alles falsch gemacht hat. Und der ein Recht auf seine Würde hat. Ein Recht auf Selbstbestimmung. Und ein Recht darauf, sich vor Beleidigungen und Bedrohungen zu schützen.

Und damit richte ich meinen Blick wieder auf meine Freunde und Bekannten. Und bitte sie, wieder Vorbild zu sein. Ihre Ausbildung zum Sportjournalisten ernst zu nehmen und in Zukunft beide Seiten zu beleuchten statt in das tumbe Horn des Mobs zu blasen. Sich rational mit einem Thema auseinander zu setzen und festzustellen, dass die Vogelfreiheit einer Person etwas für die Geschichtsbücher und nichts für die Gegenwart ist. Und einzusehen, dass die Würde eines Menschen höher anzusiedeln ist als das eigene Zerrbild von Ehre und Charakterstärke.

Ich wünsche Hakan Calhanoglu, dass er das verlorene Vertrauen in Einzelpersonen und Fans wieder aufbauen kann. Dass er die Tage der Angst, die er sicherlich in den letzten Wochen erlebt hat, vergessen kann. Auch, dass er gelernt hat, sich in der Öffentlichkeit weniger ungeschickt zu bewegen. Vor allem aber, dass er den unqualifizierten Anfeindungen vermeintlicher Fans bald wieder Extraklasse auf dem Fußballfeld entgegen setzen kann.

 

Ein Gastbeitrag von Markus Foos, geb. 1982, ist u.a. Dozent für Kommunikationswissenschaft an der privaten Hochschule „die medienakademie“. Er unterrichtet dort herangehende Sportjournalisten. Gemeinsam mit seinen Studenten produziert er die wöchentliche Radiosendung „SportRock“ im Hamburger CommunitySender TIDE 96.0 – zu hören jeden Freitag um 8.00 Uhr im Hamburger Radio oder per Live-Stream. Privat ist er KSC-Fan und wurde darum schon früh auf die fußballerische Klasse von Hakan Calhanoglu aufmerksam.